Gendern ist in der Alltagssprache angekommen, wir hören den Glottisschlag immer öfter. Wer so spricht, will verdeutlichen, dass es vielfältige Geschlechtsidentitäten gibt: Geschlechtervielfalt willkommen! So auch bei der re:publica 2023, aus dem Mund von Menschen, die bei „Europas größtem Festival der digitalen Gesellschaft“ (5. bis 7. Juni in Berlin) Vorträge hielten, sich in Podiumsdiskussionen und Workshops zu Wort meldeten. Sie redeten von Bürger*innen, User*innen und Moderator*innen, ohne dass es ein Murren unter den Zuhörenden gegeben hätte.
Ein wenig anders war die Wortwahl dagegen bei einem kurzen Panel mit der Führungsriege von ARD-aktuell, der zentralen Nachrichtenredaktion für Tagesschau und Tagesthemen. Chefredakteur Marcus Bornheim, sein Stellvertreter Helge Fuhst und die Leiterin der digitalen Angebote von Tagesschau.de Juliane Leopold nutzten die Beidnennung, allerdings in einer Kurzversion, ohne oder oder und. Das geht so: Bürger, Bürgerinnen. User, Userinnen. Moderatoren, Moderatorinnen. Auch das ist eine Art des Genderns, obgleich im binären Sprachsystem. Es macht die Frauen sichtbar – und passt zur offiziellen Genderhaltung der ARD-Nachrichtensendungen. Jede, jeder oder jede*r gendert eben so viel, wie es gefällt oder wieweit es möglich ist. In den Programmen für ein junges Publikum kommen Genderstern oder Gender-Doppelpunkt zum Einsatz. Beim älteren Stammpublikum ist die Beidnennung das Mittel zur Wahl. Ziemlich lässig.
Gehässig geht es dagegen im Politikgeschäft zu. CDU-Generalsekretär Friedrich Merz meint, die Ursache für das Umfragehoch der AfD gefunden zu haben: Das Gendern. Gemeint ist immer die Verwendung von Genderstern und Co, nicht aber die Beidnennung, die Merz selbst auch nutzt, wenn er, wie so oft, von Bürgerinnen und Bürgern spricht. In Folge 152 der sogenannten #MerzMail schreibt er: „Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur AfD“. Das war einigen CDU-Mitgliedern dann doch zu platt. Der Spiegel hat die Stimmen zusammengefasst. Der Bundestagsabgeordete Kai Wittaker beispielsweise meint, seine Partei müsse sich mehr auf Alltagsprobleme wie Frust über fehlende Konzepte für soziale und öffentliche Sicherheit konzentrieren, „anstatt den Moralisten mit ihrem Gender-Geschrei eine Bühne zu bieten“.
Im gleichen Spiegelartikel ist mal wieder nachzulesen, wie sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk zum Gendern stellt, denn die Behauptung von Merz erforderte einen Faktencheck: Die ARD hält sich an die Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung und vermeidet Genderzeichen in seinen TV-Nachrichtensendungen. Die Führungsriege hat dies dementsprechend in ihren Alltagssprech integriert, wie auf der re:publica erlebt. Dem ZDF ist die diskriminierungsfreie Kommunikation wichtig: Alle sollen sich angesprochen und wertschätzend behandelt fühlen.
Von wegen „gegenderte Nachrichtensendungen“: Im ÖRR ist echt nicht viel Gendern mit Glottisschlag zu hören. Dafür werden umso öfter männliche und weibliche Bezeichnungen gewählt. Vor der Genderdebatte waren diese Formulierungen eine Seltenheit. Sie sind heute aber gut akzeptiert, so auch eine Infratest-dimap-Umfrage des WDR vom Februar 2022: Danach erfreut sich bei zwei Dritteln der Befragten die Beidnennung einer breiten Zustimmung. So viel Gendern-Differenziertheit muss schon sein.
Ziemlich lässig übrigens waren die „Zwischentöne“ mit Luise F. Pusch und sehr viel klassischer Musik am vergangenen Sonntag, 11. Juni, im Deutschlandradio. Marietta Schwarz führte mit der fast 80-Jährigen ein tiefenentspanntes Gespräch über ihr Leben rund um die von ihr mitentwickelte feministische Linguistik und ihre zentrale These: „Die Zweitrangigkeit der Frau ist in die deutsche Grammatik eingeschrieben.“ So ist es.
Lässige Grüße Christine Olderdissen
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